Gabriel Anwander
Gabriel Anwander
Writer

Die Pilzsammlerin

Krimi16 min
CI Pilzsammlerin

Tipp: Neues Buch von Gabriel Anwander

Hohgant

Auf den Strassen des Berner Mittellandes taucht auffallend reines Kokain auf – Gerüchten zufolge stammt es aus dem Emmental. Dabei trinkt man in der grünen Hügellandschaft höchstens Schnaps...

Hier gleich lesen

Sie stand am Fenster, hielt die Vorhänge einen Spalt breit offen und spähte auf die Strasse hinunter. Scheinwerfer krochen herauf, strichen in der Kurve über den Wald, bogen in die Einfahrt ein, streiften die Steinmauer, den Brunnen, die Holzwand und kamen vor der Garage zum Stehen. Sie verharrte im Dunkeln, wagte kaum zu atmen und begann zu zählen: einundzwanzig, zweiundzwanzig ... Es war so still, dass sie hören konnte, wie die Scheibe vibrierte – angeregt vom Brummen des Motors. ... vierundzwanzig, fünfundzwanzig ... Sie zählte die Sekunden, damit sie wusste, in welchem Zustand er war, bevor er zur Tür hereinkam. ... siebenundzwanzig, achtundzwanzig ... Sie wusste, mit jeder Sekunde wuchs ihre Aussicht auf Erfolg. ... dreissig, einunddreissig, zweiund- Da: Ein metallisches Klicken ertönte. Darauf begann das schwere Tor seitlich aufzurollen. Sie trat zurück, liess die Vorhänge los. Ein Lächeln umspielte ihren Mund, doch ihre Augen blieben kalt.

»Das dürfte reichen. Der Tanz beginnt!»,

flüsterte sie und durchmass das Wohnzimmer mit schnellen Schritten. Sie steuerte elegant am gedeckten Tisch vorbei, trat in die Küche und strich sich die Schürze glatt. Das Licht in der Küche war grell und schmerzte in ihren Augen. Kein Wunder, sie hatte nahezu eine Stunde im Dunkeln gestanden, am Fenster, hatte in die mondlose Nacht gestarrt und gewartet.

Sie schloss die Augen und legte sich den Handrücken an die Stirn. Als sie dort feine Schweissperlen spürte, erschrak sie, tupfte sich die Stirn mit der Schürze trocken und atmete tief durch. Danach drehte sie die Gasflammen höher, hob nacheinander die Deckel der drei Pfannen und prüfte deren Inhalt. Feiner Duft von Muskat und Kartoffeln stieg aus der ersten Pfanne, würziger, schwerer Duft, wie von einem frisch aufgewühlten Waldboden, stieg aus der Bratpfanne, und ein herber, bitterer Duft, der sie an nichts erinnerte, stieg aus der dritten Pfanne. Sie fasste den Mixer, der neben dem Herd bereit lag, senkte den Klingenkopf in diese Pfanne und drückte auf den Knopf. Durch das hohe Rauschen hindurch hörte sie die Haustür ins Schloss fallen. »Bist du es, Rolf?«, rief sie über die Schultern. »Wen hast du denn erwartet?« Sie spürte, wie seine Stimme, dieses kindliche Nuscheln, sie nervös berührte, und sie biss sich auf die Unterlippe. Er blieb in der Küchentür stehen. Seine Arme standen seitlich von seinem rundlichen Körper ab und berührten fast den Türrahmen. Sie legte den Mixer beiseite, sah ihn an und sagte: »Wir können gleich essen.« Seine Augen, seine stahlblauen Augen ... ihre Knie fühlten sich an wie Gummi. Und hatte da, in ihrer Stimme, nicht ein feines Beben mitgeschwungen? »Was gibt es?«, fragte er schwer atmend. Er schien ihre Unsicherheit nicht zu bemerken. Sie spürte seinen Bauch an ihrer Seite und seine Hand an ihrem Gesäss, und als er sich aufrichtete, um ihr einen Kuss auf die Wangen zu pressen, knickte sie ein – ungewollt – und bot sich ihm dar. Sein nach Alkohol stinkender Atem verschlug ihr beinahe den ihren. Mit dem aufwallenden Zorn gewann sie ihre Sicherheit zurück. Oh, wie sie sein Gehabe hasste, diese unausgesprochenen Forderungen ihr gegenüber. Forderungen nach Kleinmachen, Herhalten, nach Erdulden, Hinnehmen und Sich-gefallen-Lassen. Der Zorn kam gerade rechtzeitig, er gab ihrer Haltung wieder Auftrieb, ihrem Körper die nötige Spannkraft. »Dein Lieblingsessen«, sagte sie mit einer Ruhe, die ihn hätte stutzig machen müssen. »Kartoffelstock, gebratene Pilze und Rahmsauce. Von den Pilzen, die du heute Morgen gebracht hast.« Er grunzte zufrieden und machte kehrt. »Wie war dein Tag?«, fragte sie. »Er ist noch nicht zu Ende«, antwortete er, lachte und trottete aus der Küche. Sie warf ihm einen Blick nach, in dem, für den Moment eines Augenaufschlags, abgrundtiefe Verachtung aufblitzte. Sie wartete, bis er im Badezimmer verschwunden war, goss wenig Rahm und tüchtig Sherry in die gemixte Sauce, rührte sorgfältig um und prüfte den Geschmack mit einem Löffel. Ja, sie nickte, das dürfte ihm schmecken. Danach trug sie das Essen ins Wohnzimmer.

Eine halbe Stunde später erhob sie sich, stellte die leeren Teller und Schüsseln zusammen und fragte: »Na, hat es dir geschmeckt?« Er griff nach der Fernsehzeitschrift, hob die Augenbrauen und sagte: »Muss ich das Essen jedes Mal loben? Ich sag‘ schon, wenn mir was nicht passt. Du kochst gut, und das weisst du.« Er faltete die Zeitschrift auseinander, hielt sie sich vor das Gesicht und sprach ins Blatt: »Die Pilze waren in Ordnung, aber die Sauce hatte einen bitteren Nachgeschmack.« Seine Stimme klang sehr selbstsicher, wie die eines Lehrmeisters beim Bewerten einer Prüfungsarbeit. Sie biss sich einmal mehr auf die Unterlippe, trug das Geschirr in die Küche und stellte es in den Spültrog. »Waren das alle Pilze oder sind noch welche übrig?«, hörte sie ihn fragen. Sie brachte einen Korb hinein und stellte ihn wortlos auf den Tisch. Er legte die Zeitschrift ab, ohne sie loszulassen, beugte sich vor – soweit ihn sein Bauch gewähren liess – und warf einen Blick hinein. Im Korb lagen ein paar einzelne Pilze. Einige steckten mit dem Stielansatz in einem Stück Moos, andere waren verklebt mit Laub oder Tannennadeln. Frischer, erdiger Duft stieg aus dem Korb.

»Wo hast du sie eigentlich gefunden?«, fragte sie.

Er lehnte sich zurück, lächelte überlegen und antwortete: »Hinten im Hornbachwald. Warum?« Sie fasste mit der linken Hand in den Korb, hob einen braunen, matt glänzenden Pilz heraus und hielt ihn ins Licht. »Ich meine ja nur. Dieser hier zum Beispiel ist ein Maronenröhrling. Ein schmackhafter Pilz!« Sein Lächeln gefror. Sie legte den Pilz zurück und brachte einen auffallend gelben Pilz heraus. »Und das ist ein Glimmerschüppling. Unverkennbar dieses Löwengelb. Stimmt's?« Sein Grinsen fiel zusammen und seine Augen folgten gespannt ihrer Hand, die den Pilz zurücklegte und einen heraushob, der einen aufgesprungenen Hut aufwies. Sie drehte den Pilz langsam im Licht. Die Oberseite hatte fleischfarbene Flecken und die Unterseite vorstehende weisse Lamellen. »Ein Speisetäubling. Von denen hast du am meisten gebracht. Kein Wunder, sie stehen selten allein.« »Was soll das?« Seine Stimme klang höher als sonst, irgendwie irritiert, und seine Augen wurden schmal und bekamen eine harte Ernsthaftigkeit. »Alle diese Pilze findet man in lichten, feuchten Mischwäldern. Entlang der Emme zum Beispiel. Ist doch irgendwie komisch, findest du nicht?« Sie sprach ruhig und monoton, wie jemand der Selbstgespräche führt, und vermied es, ihn anzusehen. »Der Hornbachwald ist ein trockener, finsterer Tannenwald.« »Na und?« Er hielt die Luft an, zögerte kurz, fuhr sich mit der Zunge über die wulstigen Lippen und blätterte in der Zeitschrift, ohne hinzusehen. »Und dieser hier«, sagte sie mit leicht erhobener Stimme, »ist ein grüner Knollenblätterpilz.« Er rührte sich nicht, starrte auf den Pilz. »Knollenblätterpilz. Sagt dir das nichts?« Er blickte auf, geradewegs in ihre Augen. Sein Gesicht begann sich zu röten und mitten auf seiner Stirn zeichnete sich eine Ader ab, in der Form eines Ypsilons Sie hielt seinem Blick stand. Sie sagte langsam, in einem schneidenden Ton: »Zwei von diesen Pilzen töten einen Menschen.« Er senkte seinen Blick zurück auf ihre Hand. Sie hielt den Pilz mit spitzen Fingern, drehte ihn im Licht der Tischlampe. Der Stiel und die Unterseite des flachen Hutes waren schneeweiss, die Oberseite schimmerte in einem zarten Hellgrün. Seine Unterlippe hing herunter, nass glänzend, seine Augen wurden grösser. Er schien zu überlegen. Plötzlich schleuderte er die Zeitschrift weg, schnaubte, stützte sich mit beiden Händen auf die Tischkannte und erhob sich. Darauf hatte sie gewartet. Sie griff mit einer raschen Bewegung nach der Pistole, die sie vorsorglich auf die Sitzfläche des Stuhls neben sich gelegt hatte und zielte damit auf seine Brust. »Halt!«, rief sie. Ihre Augen blitzten dunkel. Er liess sich zurückfallen. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, bis es so weiss war wie das Tischtuch. »Was ... Was zum Teufel ist mit dir los?«, quetschte er hervor. »Du kennst keinen einzigen Pilz. Gib es zu!« Sie presste die Worte zwischen den Zähnen hervor. »Zwei Jahre lang hast du vorgegeben, in Langnau den Pilzkurs zu besuchen, und vom Frühling bis in den Herbst hast du behauptet, in den Wäldern Pilze zu suchen. Und das abends, nachts, bis in die Morgenstunden hinein.« Er schwieg und wartete. »Hast du wirklich geglaubt, ich sei so blöd?« Ihr Mund war trocken, ihre Stimme bekam einen kratzenden Beiklang. »Du warst jedes Mal bei meiner Schwester. Gib es zu. Du hast mich betrogen, mit meiner eigenen Schwester.« Er sah ihre Verzweiflung und sein Gesicht entspannte sich, die Farbe kehrte langsam zurück und seine Lippen formten sich zu einem wölfischen Grinsen. »Deine Schwester, pah, deine Schwester ist eine kleine Göre!«, rief er. »Sie hat mich verführt.« Sie schluckte, zwang sich zu atmen und redete weiter: »Während du bei ihr warst, habe ich deine Pilzbücher studiert.« Er öffnete seinen nassen Mund erneut, besann sich, schloss ihn wieder und verschränkte seine kurzen Arme vor der Brust. »Du kannst mich doch deswegen nicht erschiessen.« Es war so still im Raum, dass sie hörten, wie in der Küche Wasser auf das Geschirr tropfte, das im Spültrog stand. Sie rückte näher an den Tisch und ergründete sein Gesicht.

»Spürst du noch nichts?«,

fragte sie. Ihr Blick klärte sich und ihre Stimme klang gefasster. Da schielte er wieder auf den Pilz, den sie immer noch in ihrer linken Hand hielt. »Wo hast du diesen Pilz her?«, kam es aus ihm heraus. Er fasste sich an den Bauch, Schweissperlen bildeten sich auf seiner Stirn und seine Augen zeigten erste Anzeichen von Entsetzen. »Vergiss es«, sagte sie und neigte ihren Kopf leicht zur Seite. »Kein Pilzsammler verrät seine Fundorte.« »Du hast ... du hast doch nicht etwa ...« Mit einem Ruck riss er seinen Mund auf und steckte seinen Mittelfinger in seinen Rachen. »Gib dir keine Mühe«, sagte sie, aber ihre Worte gingen in grässlichen Würgegeräuschen unter. Jetzt fühlte sie sich überlegen. Sie legte die Pistole auf den Tisch, beugte sich vor, stiess mit der flachen Hand seinen Kopf zurück und sagte laut und deutlich: »Gib es auf. Ich habe fünf von diesen Pilzen in der Sauce püriert. Das Gift ist längst in deinem Darm.« Er hockte verkrampft auf seinem Stuhl und presste beide Hände auf seinen Bauch. Sein Kopf glühte, das Y auf seiner Stirn war geschwollen und seine Augen traten fast aus den Höhlen. Schweissperlen kullerten über seine Schläfen. »Du hast was? In die Sauce? Oh, du bist eine ...« Er krächzte regelrecht. »Wie du weisst, esse ich Pilze nur gebraten, nie mit Sauce.« Sie hob die Arme fast wie zur Entschuldigung. »Du hast die ganze Sauce allein gegessen.« In diesem Augenblick sah sie ein teuflisches Blitzen in seinen Augen. Er wischte den Pilzkorb vom Tisch, warf sich erstaunlich schnell nach vorn und grabschte nach der Waffe. Es war schliesslich seine, er hatte sie schon, seit sie sich kannten. Er blieb auf dem Tisch liegen, keuchte und zielte mit beiden Händen auf ihre Brust. Sie war aufgesprungen und wich langsam zurück bis zur Wand. Den Pilz streckte sie wie zur Abwehr gegen ihn hin. Ihr Gesicht war blass, verriet jedoch keine Regung, auch keine Angst, als sie mit ruhiger Stimme sagte: »Ich würde mir das gut überlegen. Das Gift tötet langsam und qualvoll, das Sterben ist schrecklich.« Er bekam einen irren Blick, hustete und spuckte aus. Sogar von seinen Händen tropfte Schweiss. Sie bewegte sich nicht und redete wie mit einem Angeklagten: »Du hast es in der Hand. Es steckt nur eine einzige Kugel in der Pistole. Die anderen habe ich weggeworfen.« Er hielt die Luft an und quetschte die Augen zu. Zuerst war wieder das Tropfen in der Küche zu hören, dann hörte sie, wie er mit den Zähnen knirschte. »Der Tod erlöst dich erst nach drei Tagen«, fügte sie an. Als sie sah, wie er sich auf den Stuhl zurückgleiten liess und die Pistole auf sich richtete, schloss sie ihre Augen, liess den Pilz los und presste sich die Hände auf die Ohren.

Der Schuss dröhnte in ihren Ohren so stark, dass sie die Fragen der Polizistin am Telefon kaum verstand. Deshalb wiederholte sie, was sie bereits gesagt hatte: »Bitte kommen sie schnell, mein Mann hat sich umgebracht«, und hängte ein. Danach ging sie zurück zur Stelle, wo sie den Pilz hatte fallen lassen, hob ihn auf, fast zärtlich, und sagte: »Eine Pilzsammlerin püriert Pilze nicht. Niemals!« Sie schüttelte den Kopf. »Selbst das hast du nicht gewusst.«

Buchempfehlung

Schrattenfluh

Sattgrüne Hügel, weite Wälder, kühle Tobel, naturverbundene Menschen und reines Quellwasser: Das Emmental ist Idylle pur. Bis ein Tierarzt und eine junge Frau ermordet werden.

Hier gleich lesen

Love

Teile deine Begeisterung für diese Story und verschenke bis zu 10 Herzchen.

Mit Freunden teilen

Mehr Stories

4
CI: Piercing

Piercing

Ein Mann will ein Foto von sich machen lassen. Dafür den Kopf schiefhalten zu müssen behagt ihm ganz und gar nicht...

6 minSpoken Word