Tod am Napf
Tipp: Neues Buch von Christine Brand
Der Unbekannte
Er löschte seine ganze Familie aus, nur sein Sohn überlebte - doch ist das die ganze Wahrheit? Der vierte Fall für das Schweizer Ermittlerduo Milla Nova und Sandro Bandini!
Ich bin am 17. August gestorben. Obwohl ich gar nicht hätte sterben sollen. Wir hätten es beide rückgängig gemacht, wäre es möglich gewesen. Doch das war es nicht. Ich weiß, das klingt nach einer komplizierten Geschichte. Ist es auch. Und eine traurige, zumindest aus meiner Sicht. Aber lassen Sie mich von vorne beginnen.
„Alles eingepackt? Proviant, Regenschutz? Wanderschuhe, und zwar die richtigen?“ Agnes konnte es nicht lassen. Jedes mal ließ sie einen Spruch fallen. Ich mochte es nicht mehr hören. Nur, weil ich damals, als wir über die Sieben Hengste wandern wollten, die falschen Schuhe mitgenommen hatte. Nicht die meinen, sondern seine. Als es noch einen „Ihn“ in meinem Leben gab. Etwa drei Nummern zu groß waren sie gewesen. Eine Stolperpartie war das geworden, damals, vor ungefähr elf Jahren. Agnes hatte es nicht vergessen. So, wie sie nie etwas vergaß. An diesem Tag, der zum letzten meines Lebens werden sollte, stand der Berg Napf auf dem Programm. Ein Tag, zum Sterben schön. Jemand hatte in großzügigen Schwüngen ein Wolkengeschlirr an den Himmel gemalt, um dem eintönigen Blau die Langeweile auszutreiben. Felder und Hügel lagen wie ein grüner Wellenteppich vor den Bergen, die sich Zähnen gleich auf den Horizont gesetzt hatten. Als wären sie ein Gebiss, der Himmel der Rachen – und die Wolken der Atem. Agnes und ich standen oben an der Treppe, warteten auf Brigitte. Paul war nicht ausgestiegen. Er sollte uns von Burgdorf nach Trubschachen chauffieren. Seinem Gesicht nach zu urteilen war es eher ein Müssen als ein Wollen. Gelangweilt schaute er zu uns herüber, trommelte mit seinen beiden Zeigefingern einen stummen Rhythmus aufs Lenkrad. Er würde nicht mitwandern. Er wanderte nie mit. Undenkbar. Von jenem Paul mit wilden Locken, Schlaghosen und Wollstrickpulli, der Agnes einst im Berner Gaskessel Samstag für Samstag tanzend umworben und dank einer unerschütterlichen Ausdauer letztlich auch erobert hatte, war nicht viel übrig geblieben. 17 waren sie gewesen, damals. 47 waren sie heute. Sie wirkte fünf Jahre älter. Er fünf Jahre jünger. Banker war er geworden. Einer von der Teppichetage. Man sah es ihm an. Kopfform, Haarwuchs wie auch seine Art sich zu bewegen und zu geben, schienen sich seiner beruflichen Tätigkeit angepasst zu haben. Aufrechter Gang. Die Haare kurz-, die Locken weggeschnitten. Ein auswechselbares Durchschnittsgesicht. Wandern war für Paul Weiberzeugs. Für Agnes war es Frauensache. Wandertag war Frauentag, einmal im Monat, Sommer für Sommer, seit Jahren schon. Stets wir drei, Agnes, Brigitte und ich, die wir bereits in der Schule gemeinsam unterwegs gewesen waren. Die Unzertrennlichen, wie Agnes manchmal sagte. Sie, die immer Recht hatte, lag damit falsch. Doch wer sollte das an diesem lauen Sommermorgen ahnen. Brigittes Zug war eingefahren. Herzogenbuchsee-Burgdorf, dreizehn Minuten Fahrt, weit hatte auch sie es nicht gebracht. Nur knapp über die Talgrenze hinaus. Für einen Moment verwandelten die Pendler die Unterführung in einen Menschenteich. Brigittes Kopf stach aus den vielen Häuptern hervor, die sich durch den Betontunnel schoben. Ihr langes, glattes, pechfarbenes Haar, die herausfordernd hellen Augen. Selbst in ihren Wanderklamotten strahlte sie eine Eleganz aus, die mir völlig abging. Und Agnes sowieso. Brigitte war schon immer die Schönste gewesen von uns Dreien. Das hatte sich nicht geändert. Im Gegenteil: Die Jahre hatten für sie gearbeitet – und gegen uns. „Da bist du ja! Blendend siehst du aus...“ „Hallo ihr beiden. Was für ein Tag! Das hast du wieder mal bestens organisiert, Agnes.“ „Wie schön, dich zu sehen!“ „Wunderbar, dass es geklappt hat.“ „Ja, ein ganz besonderer Tag soll es werden. Ihr werdet ihn nie vergessen!“
Eine Drohung?,
frage ich mich im Nachhinein. Eine Drohung, die niemand als Drohung verstand?
Während der Fahrt durchs Emmental, den Bergen entgegen, Eiger, Mönch und Jungfrau zum greifen nah und doch nicht näher kommend, schwieg einer und drei redeten. Nichts Besonderes also. Alles wie immer. Paul war da und doch nicht da. Erst Stunden später, als plötzlich alles anders war, fiel mir ein, was mir nicht aufgefallen war. Diese Blicke während der Fahrt. Er schaute hin und wieder in den inneren Rückspiegel, als wollte er sich vergewissern, dass wir noch immer hinter ihm saßen. Agnes, auf dem Beifahrersitz, blickte zwei-, dreimal zu ihm hinüber. Doch warum hätte ich mir dabei etwas denken sollen? Ich, die Ahnungslose. Die Ahnungsloseste von allen. In Trubschachen angekommen, stiegen wir aus. Drei Küsschen, zwei links, eines rechts, drückte Paul mir und Brigitte auf die Wangen. Seiner Frau eines auf den Mund. Keine Herzlichkeit. Das hingegen hatte ich registriert. Wie die Gewohnheit die Herzlichkeit verdrängt, hatte ich gedacht. Dann fuhr er weg, der Paul.
Tock – tock – tock. Das Klopfen der Stockspitzen auf den Steinen gab uns den Rhythmus vor und mir ein vertrautes Gefühl. Agnes bestimmte Route und Tempo. Schon in der Schule hatte sie stets das Kommando übernommen, keine hatte es ihr streitig gemacht. Es war uns gerade recht gewesen. Agnes, die Anführerin, damals wie heute. Sie war immer perfekt vorbereitet, hatte die passende Wanderkarte zur Hand, den Weg, den wir zu gehen hatten, mit rotem Filzstift eingezeichnet. Es gab schon viele rote Striche in ihrer Kartensammlung, zahllose gewanderte Kilometer. Wahrscheinlich hatten wir längst die Welt umrundet. „Wahrscheinlich haben wir schon die ganze Welt umrundet.“ Ich setzte dem Schweigen ein Ende. „Haben wir nicht. Ich hab sie gezählt, unsere Wanderkilometer. Wir haben dreikommasiebenmal Mal die Schweiz durchquert.“ Brigitte und ich tauschten einen Blick. Agnes, die Buchführerin. Über alles und jedes.
Sonderbar, eigentlich, wie ausgeprägt meine Erinnerungen sind. Jedes Detail tief in mein Bewusstsein eingraviert. Als hätte ich den Tag aufgezeichnet und mir den Film schon fünf Mal in Slowmotion angesehen. Dabei hatte ich meiner Lebzeit nie ein gutes Gedächtnis. Aber vielleicht ist das so mit unseren letzten Tagen. Dass man sie nie vergisst.
Am Anfang des Schlussaktes meines persönlichen Dramas stand ein Fehltritt. Als hätte das Abrutschen meines Fußes über einen Stein mit dem darauffolgenden Einknicken des Knöchels dem Geschehen einen Stoß versetzt, um es in eine fatale Richtung zu lenken.
„Autsch, verflucht!“ Ich stolperte zwei, drei Schritte weiter, setzte mich auf einen Baumstrunk am Wegrand und zog den Schuh aus, um meinen Fuß zu untersuchen. Agnes verdrehte genervt die Augen.
„Aufpassen solltest du!“ In ihrer Stimme versteckte sich Hektik. Unvorhergesehene Ereignisse fanden in ihrem Programm keinen Platz.
„Hast du dir weh getan?“ Brigitte begutachtete meinen Knöchel. Der machte sich gerade daran, sich bläulich zu verfärben und einen Kontrastpunkt zur heruntergeschobenen roten Socke zu setzen.
„Wird nicht allzu schlimm sein.“
Ich stand auf, legte Gewicht auf meinen linken Fuß, so vorsichtig, als drohe er abzuknicken wie ein angesägtes Stuhlbein. Zuckte zusammen. Versuchte es erneut. Der Knöchel hielt, was er nicht versprach.
„Der Schmerz wird sicher rasch nachlassen.“ Der Versuch eines Lächelns verzog mein Gesicht.
„Hoffentlich. Du kannst uns jetzt nicht die Wanderung verderben!“ Agnes strich sich mit einer nervösen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sah nicht gut aus, das fiel mir jetzt erst auf. Zu bleich.
Der kleine Zwischenfall, der an einem Tag wie jedem anderen nicht mehr als ein kleiner Zwischenfall gewesen wäre, vermochte unsere zufriedene Stimmung wegzufegen. Vielleicht lag es am Tonfall in Agnes Stimme. An ihrer Wortwahl. Keine Ahnung. Auf jeden Fall nahm ein unangenehmes Gefühl den Tag gefangen, der so gut begonnen hatte. Wie programmiert passte sich das Wetter unserer Laune an. Auf einmal blies uns Wind ins Gesicht. Regenvolle Wolkensäcke hatten die Zirren weggeschoben und sich träge über den Hügeln an den Himmel gesetzt, darauf lauernd, sich zielgenau über uns zu entleeren.
Tock – tock – tock. Unbeirrt stapften wir weiter. Doch die zuvor angenehme Stille war einem bedrückten Schweigen gewichen. Keine von uns Dreien mochte es brechen. Keine Bemerkungen. Keine Erzählung. Kein Wort. Etwas Unausgesprochenes hatte sich zwischen uns gedrängt und blieb verschwiegen, weil es nichts Gutes bringen würde. Was war bloß los mit uns heute, wir wollten es doch gut zusammen haben.
Was stimmte nicht mit Agnes?
Ich versuchte, meine Gedanken in eine andere Richtung zu treiben. Darin war ich immer gut gewesen, im Mich-weg-denken. Ja nicht zu viel Grübeln.
Natürlich. Jetzt, im Nachhinein, sind sie plötzlich da, all die Fragen, die ich mir nie gestellt hatte. Die Frage, ob ich diese beiden Frauen, die ich so lange zu kennen glaubte, wirklich kannte. Agnes – mit ihrem scheinbar makellosen Leben. Eine Villa mit Pool, ein angesehener Job, ein erfolgreicher Mann an ihrer Seite. Und Brigitte, die es weder im Beruf noch mit Männern je gut getroffen hatte und die ihre Zufriedenheit erst im Alleine sein fand. So zumindest schien es mir, die ich ihre Leben nur von Außen sah. Das waren die Bilder, die sie mir hingemalt hatten und mit denen ich mich zufrieden gab. Jetzt aber frage ich mich, ob die Freundschaft, von der ich meinte, sie hätte all die Jahre überdauert, wirklich Freundschaft geblieben war. Oder ob wir sie aus Gründen der Bequemlichkeit nur spielten. Weil die Zeit zwischen den Zeiten zerfloss, wenn wir uns zu unseren Wanderungen trafen. Als hätte jemand jeweils das Rad der Geschichte zurückgedreht und uns an einem längst vergangenen Punkt abgesetzt, an dem wir es ganz gemütlich und das Leben noch so einfach fanden. Dabei hatten wir wohl übersehen, wie sehr sich jede von uns verändert hatte. Dass die Bande zwischen uns nur noch Schatten der Erinnerungen waren und nicht mehr wirklich existierten. Ich weiß nicht, warum ich dies nicht schon früher erkannte. Aber danach ist man immer gescheiter als davor. Wäre dem nicht so, sähe das Danach vielfach anders aus. In meinem Fall hätte es dann noch ein Danach gegeben.
Tock – tock – tock. Schon malten fette Tropfen dunkle Flecken auf die Steine. Der Regen verwandelte die Blätter in Trommeln und den Wald in ein Orchester. Hin und wieder rumorte der Himmel wie ein riesiger Rumpelbauch. Der Pfad wurde steiler. Und schmaler.
„Es könnte glitschig werden.“ Brigitte hatte angehalten, um ihren Regenschutz hervor zu klauben, der sich irgendwo ganz unten in ihrem Rucksack versteckte.
„Wird schon gehen!“ Agnes, die Unerschütterliche. Sie wirkte noch immer mürrisch. Unfreundlich ihr Ton. Doch es war ein ungeeigneter Moment, um darüber nachzudenken. Ich war zu sehr auf mich selbst konzentriert.
„Das ist kein guter Weg für mich.“ Ich hörte, was die Angst mit meiner Stimme anstellte und ärgerte mich darüber. Erbärmlich klang sie. Und fremd.
Links vom Pfad ging der Wald steil hinauf, rechts davon steiler noch hinab. Ein Grenzfall für eine wie mich, die die Höhe ängstigte. Agnes wusste um meine Höhenangst. Bisher hatte sie bei ihrer Routenwahl stets Rücksicht darauf genommen. Doch heute schien irgendwie alles ungut zu laufen.
„Stell dich nicht so an!“, sagte Agnes barsch.
Ich schwieg. Blickte angestrengt nach links, an den Hang. Bloß nicht rechts hinunter in den Abgrund schauen. Agnes schritt voran. Ich folgte in der Mitte. Brigitte hinterher. Am liebsten wäre ich gekrochen. Ich versuchte mir einzubilden, auf einer breiten Straße zu gehen. Doch es nützte nichts. Schon wurde mir schwindlig. Die Unsicherheit verdrängte meine Standfestigkeit, die Knie veränderten ihre Konsistenz. Meine Augen brachen meinen Willen und schweiften immer wieder nach rechts, blickten in die Tiefe, die mich hinabziehen, aufsaugen, verschlingen wollte.
Die Regentropfen waren jetzt Bindfäden. Das Laub am Boden und die Erde vermengten sich zu Schmierseife.
Agnes marschierte.
Brigitte fluchte.
Und ich fiel.
So sehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht erklären, warum ich stürzte. Offenbar hat jemand die letzten Sekunden vor dem Fall von meiner Festplatte gelöscht. Ob ich gestolpert bin? Wegen meines instabilen Knöchels? Oder über einen Wanderstock? Über meinen eigenen oder über den von Agnes? War ich wegen ihr gestolpert? Vielleicht bin ich auch einfach so gefallen, weil mir die Furcht vor der Höhe das Gefühl des Gleichgewichts geraubt hatte. Ich weiß es nicht.
Aber ich erinnere mich, wie ich fiel. Ich beobachtete, wie sich der Boden in unbegreiflicher Langsamkeit meinem Gesicht näherte. Die Zeit hatte sich entschlossen, träger voran zu schreiten. Noch während des Fallens wägte ich ab, ob es sich empfehlen würde, mich abzudrehen. Ich schien in der Schwerelosigkeit hängen zu bleiben, wartete auf den Aufprall, der sich verzögerte. Und dann doch kam. Mein Körper verursachte ein eigenartiges Geräusch, als er auf dem Boden aufschlug. Wie ein Walross, das nach Luft schnappt. Der Schlag ließ in mir Knochen ächzen, von deren Existenz ich zuvor nichts gewusst hatte. Ich fühlte mich wie ein hingeworfener Lappen. In meinem Kopf rotteten sich die wüstesten Worte zu Schimpftiraden zusammen. Doch nur ein alleinstehendes „Verflucht!“ schaffte es über meine Lippen. „Typisch!“ Agnes stand vor mir und blickte auf mich herab. „Niemand sonst ist so ungeschickt wie du!“ Sie machte keine Anstalten, mir zu helfen. Verwundert blickte ich von unten zu ihr hinauf, vage hoffend, dass sie nur scherzte, auch wenn sie nicht danach klang. In ihren Augen sah ich nichts als Kälte. Sie kam mir vor wie eine fremde, feindselige Frau. Ich verstand nicht. Es war Brigitte, die mir die Hand reichte, um mir aufzuhelfen. Und die für mich Partei ergriff. „Agnes. Was ist heute bloß in dich gefahren?“ „Frag doch sie. Sie soll es dir erklären!“ Brigitte blickte mich an. Ich zuckte mit den Schultern und wusste keinen Text. Das Drehbuch, das Agnes mir vorhalten wollte, war mir völlig unbekannt. „Was soll sie mir sagen?“ Brigitte wurde langsam grantig. „Warum es mir beschissen geht! Soll sie dir doch erklären, was mit mir los ist!“
Warum es ihr beschissen ging? Weshalb sollte ich wissen, warum es Agnes beschissen ging? Mir ging es doch grad selbst ziemlich dreckig! Ich stand hier, nass bis auf die Haut, die Kleider beschmutzt, das Gesicht dreckverschmiert, der Knöchel schmerzhaft geschwollen. Das Gefühl, ich sei im falschen Stück gelandet, steigerte sich zur Überzeugung. Alles verkehrt in dieser Welt.
„Ich habe keine Ahnung, warum es dir schlecht gehen sollte“, sagte ich, und staunte, wie sachlich ich mich anhörte. „Du! Wie scheinheilig du tust! Du weißt es haargenau. Du allein bist an allem schuld!“ Agnes spuckte die Worte aus wie Gift. Sie zeigte mit dem Finger auf mich, als wollte sie mich damit erstechen. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst!“ Auch ich wurde jetzt laut. Ein Donner grollte. Der Regen wurde heftiger. Und plötzlich waren da Tränen. Agnes weinte. Agnes! Es war das erste Mal, dass ich meine Freundin weinen sah. In den 39 Jahren, die wir uns kannten. Erst jetzt, wo ich nicht mehr sicher wusste, ob sie wirklich eine Freundin war. Ich fühlte mich unbeholfen, überfordert auch. Brigitte legte den Arm um Agnes’ Schulter. „Lass uns drüber reden.“ Agnes stieß sie beiseite, drehte sich weg. „Lass uns darüber reden!“ Noch einmal Brigitte, eindringlicher jetzt.
„Nicht hier.“
„Wo dann?“ „Lass uns weiter gehen.“ „Ich möchte verstehen!“ „Später.“ Die beiden schienen mich nicht mehr wahrzunehmen. Ich war in die Rolle der Beobachtenden geschlüpft, obwohl ich gleichzeitig im Mittelpunkt stand – ohne zu wissen, warum. „Wir gehen rauf. Oben gibt es ein Berghaus.“ Agnes hatte sich gefasst. Schon gab sie wieder die Richtung vor. Wir müssen ein sonderbares Bild abgegeben haben, wir drei Frauen, die wir da hintereinander durch den Regen den Berg hinaufstapften. Mein ganzer Körper tat mir weh. Die Nässe und der Schmutz machten meine Kleider schwer. Es fühlte sich an, als hätte sich eine Hand auf meinen Rücken gelegt, die versuchte, mich nieder zu drücken. Zum Glück dauerte es keine halbe Stunde, bis wir auf der Höhe waren. Auf dem Gipfel, der so sanft gerundet ist, dass der Begriff Gipfel gar nicht passt. Zuoberst auf dem Napf, der seinen Besuchern an einem klaren Tag die Freiheit verspricht, ihnen eine Weite bietet, die das Leben groß macht und den Menschen klein. Doch an diesem vermaledeiten Tag strahlte der Napf nur Bedrückung aus. Nichts Gutes. Die Landschaft war mit einem undurchdringbaren Grau übermalt. Die nassen Wolken hingen tief in den Gräben, als wollten sie die Welt ersticken. Sie machten mir das Atmen mühsam. Das Berghaus war geöffnet. Wenigstens das. Die Wärme, die uns empfing, täuschte Geborgenheit vor. Erst jetzt spürte ich, wie die Kälte meinen Körper in Besitz genommen hatte und ich fürchtete, sie lasse ihn nie wieder los. Kaum eingetreten, steuerte ich direkt die Toilette an. Am Waschbecken musste ich das Wasser eine Weile laufen lassen, bis es sich erwärmte. Ich nässte ein paar Papierhandtücher, wusch mir den Schmutz aus dem Gesicht. Blickte mir im Spiegel in die Augen, sah die Müdigkeit. „Was ist nur passiert?“, fragte ich flüsternd mein Spiegelbild. „Was wird hier gespielt?“ Keine Antwort. Ich musste mich überwinden, den engen Raum wieder zu verlassen.
Wäre ich doch einfach drin geblieben!
Der Tee stand schon da, dampfte aus den Tassen. Wir waren die einzigen Gäste. Ich setzte mich zu Agnes und Brigitte an den Tisch. Wir schauten uns an. Das Schweigen wurde schwer. „Nun.“ Brigitte ließ dieses eine Wort alleine im Raum stehen. Agnes räusperte sich. Ihre Stimme klang rauer als sonst. „Paul betrügt mich.“ Der Satz zog einen Leerraum nach sich. Als müsste er erst heruntergewürgt werden. „Paul? Unmöglich!“ Brigitte klang ehrlich überrascht. „Das kann nicht sein! Bist du sicher?“, fragte ich. Damit hatte ich zuallerletzt gerechnet. Ich versuchte, meine Hand auf jene von Agnes zu legen. Sie schreckte zurück, als hätte sie sich verbrannt. „Ja, ich bin sicher.“ „Wie kannst du dir denn sicher sein?“, wollte Brigitte wissen. Sie hörte nicht auf, mit dem Teelöffel in ihrer Tasse zu rühren. „Ich habe ihn erwischt.“ Der Löffel fiel scheppernd auf den Holztisch. „Was heißt: du hast ihn erwischt?“ „Das heißt: Ich habe ihn erwischt.“ „Dann weißt du, wer sie ist?“ „Ja, ich weiß ganz genau, wer sie ist. Ich kenne sie sogar gut.“ Agnes sah mich direkt an und wirkte völlig gefasst. Doch ihre Stimme war gefroren. Ich hielt die Tasse mit beiden Händen umschlossen und nahm einen großen Schluck, damit ich ihrem Blick nicht standhalten musste. Sogar der Tee schmeckte eigenartig an diesem Tag. Bitter. „Das tut mir leid.“ Das tat es mir wirklich. „Dir tut es leid? Ausgerechnet dir will es leid tun?“ Agnes schrie mir ins Gesicht. Unwillkürlich rutschte ich von ihr weg. „Natürlich tut es mir leid!“ Blut schoss mir in den Kopf. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen. Sie ging zu weit. Doch ich hielt meine Wut zurück. Versuchte mich selbst zu beschwichtigen. Dies hier war nicht die Agnes, die ich kannte. Sondern eine tief verletzte Agnes, die neben sich stand. „Verlässt du ihn?“, wollte Brigitte wissen. Mich hätte mehr interessiert, wer Pauls Geliebte war, doch ich wagte nicht, zu fragen. Ich fühlte mich plötzlich elend. Mein Kopf war auf einmal fiebrig, als würde er glühen. Ein Schmerz pochte von Innen an meine Stirn. Agnes beantwortete Brigittes Frage nicht. Stattdessen begann sie, in ihrem Rucksack zu wühlen. Sie stellte ein Necessaire auf den Tisch. „Es ist Zeit“, sagte sie und blickte mir in die Augen. „Es ist Zeit, endlich ehrlich zu sein.“ Etwas an ihrem Gesicht irritierte mich. Die Proportionen schienen sich verschoben zu haben. „Du sagst also nichts?“, doppelte Agnes nach. „Ich weiß nicht, was du von mir erwartest.“ Mir wurde übel. Ich nahm einen weiteren Schluck Tee. Agnes öffnete den Reisverschluss des Necessaires und zog einen Ohranhänger heraus, der mir vage bekannt vorkam. Das Stück war nicht nach meinem Geschmack, völlig überdimensioniert, es bestand aus einem schwarzen Drahtgeflecht und bunten Perlen. Der Anhänger verschwamm vor meinen Augen. „Den hier habe ich unter unserem Bett gefunden.“ Agnes hielt ihn in die Luft wie einen Pokal, den sie gerade errungen hatte. Mir war schwindlig. Der Boden setzte sich in Bewegung. Auch mit meinen Augen schien etwas nicht zu stimmen. „Ich habe dir diesen vor acht Jahren aus Burkina Faso mitgebracht. Erinnerst du dich?“ Agnes wedelte mit dem Anhänger vor meinem Gesicht herum. Doch das war nicht meiner. Plötzlich begriff ich. Agnes meinte, ich sei die Frau, die ihr den Paul genommen hatte. Ich! Den Paul! Am liebsten hätte ich laut losgelacht. Aber es ging nicht. In meinem Hals wurde es eng. Jemand schien mir die Kehle zuzudrücken. Doch da war niemand. Ich rang nach Atem. Mein ganzer Körper fühlte sich eigenartig an. Die Haut wurde taub. Ich verlor jegliches Gefühl. „Ich werde dir das nie verzeihen.“ Agnes wartete meine Antwort nicht ab. „Damit kommst du nicht davon!“ In diesem Augenblick war mir alles klar. Fragen Sie mich nicht, warum ich es auf einmal wusste. Ich wusste es einfach. Und im gleichen Moment realisierte ich, dass dies mein Ende war. Agnes hatte mich vergiftet. Der Tee! Sie hatte mir etwas in den Tee getan. Natürlich! Ich war nicht mal überrascht. Irgendwie passte das zu Agnes. Sogar das. Ich wollte ihr sagen, dass sie sich irrte. Doch die Leitungen zwischen meinem Gehirn und dem Körper waren gekappt. Er gehorchte mir nicht mehr. Ich wollte schreien: „Ich war es nicht!“ Ich wollte flehen: „Helft mir!“ Doch nichts geschah. Ich fühlte mich hilflos und leer. „Ich muss dir etwas sagen.“ Brigitte hörte sich nicht mehr an wie Brigitte. Sie sah auch nicht mehr aus wie Brigitte. Ihr Gesicht hatte die Konturen verloren, war nur noch ein fleischfarbener Fleck. „Nicht ihr – mir hast du diesen Anhänger geschenkt.“ Brigittes Stimme kam von sehr weit weg. „Sie ist es nicht. Ich bin’s. Ich hab was mit Paul.“ Die Welt stand einen Herzschlag lang still. „Du?“ Meine letzte Erinnerung ist das Entsetzen in Agnes’ Gesicht. Ich spürte nicht mehr, wie meine Stirn mit einem dumpfen Ton auf der Tischplatte aufschlug. Ich war schon weg.
So bin ich also gestorben. Obwohl gar nicht ich hätte sterben sollen. Wäre es möglich gewesen, hätten wir es rückgängig gemacht. Doch das war es nicht.
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